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Wächst das Rettende auch?

Die Debatte um das Wirtschaftswachstum – Bücher zum Thema

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Schöpferische Zerstörung

Karl-Heinz Paqué: Wachstum! Die Zu­kunft des globalen Kapitalismus. Mün­chen: Hanser, 2010, 280 S., 19,90 Euro.

Beginnen wir mit dem Buch des Magde­burger Professors Karl-Heinz Paqué, der im Titel «Wachstum» mit Ausrufezeichen schreibt und schon dadurch seinen Stand­punkt deutlich macht. Paqué war von 2002 bis 2006 für die FDP Finanzminister in Sachsen-Anhalt, bevor er wieder an die Universität zurückging. Er ist Schüler von Herbert Giersch, dem langjährigen Leiter des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel (dem das Buch auch gewidmet ist), das ja durch seine eindeutig neoliberal ausge­richteten Analysen und Empfehlungen be­kannt ist. Das Besondere an Paqué ist al­lerdings, dass er weniger in der Nachfolge von Ludwig von Mises oder Friedrich von Hayek steht, den eigentlichen Vordenkern des Neoliberalismus, sondern viel stärker von Joseph Schumpeter beeinflusst ist, dem dritten wichtigen Vertreter der «österreichischen Schule» der National­ökonomie. Während jene im Sozialstaat bereits den Beginn des Sozialismus sahen und ihn de facto zugunsten einer Art Ar­menfürsorge abbauen wollten, sah Schumpeter durchaus die Notwendigkeit von sozialem Ausgleich für den Zusam­menhalt der Gesellschaft. Für Schumpeter lag der Schlüssel der ökonomischen Ent­wicklung in den Wellen der Innovationen, die durch «schöpferische Zerstörung» den alten Produktionsapparat umwälzen.

Paqués Buch besteht aus fünf  nicht stringent miteinander verbundenen Tei­len, die sich mit den «Kräften des Wachs­tums», «den «Grenzen des Wachstums», den «Risiken der Finanzmärkte», dem «Wandel des Sozialstaates» und der «Zu­kunft des Kapitalismus» befassen. Die Grundthese von Paqué lautet in etwa so, wie sie ähnlich auch in den meisten Partei­programmen von rechts bis links zu finden ist und von zahlreichen führenden Vertre­tern der im Bundestag agierenden Parteien rauf und runter gebetet werden: Wirt­schaftliches Wachstum ist der einzige Weg, um weltweit die «großen Ziele der Menschheit» zu erreichen und auf Dauer «Lebensqualität und soziale Sicherheit» gewährleisten zu können. Ein Verzicht auf Wachstum wäre daher nicht nur wirt­schaftlich und politisch falsch, sondern auch ethisch nicht zu rechtfertigen, weil ohne Wachstum die großen sozialen und ökologischen Probleme der Menschheit unmöglich gelöst werden können. Im Un­terschied zu Deregulierern und Privatisie­rern legt er sein Hauptaugenmerk auf die technologische und arbeitsorganisatori­sche Innovation mit Betonung des indust­riellen Bereichs.

Laut Paqué sind es vor allem drei Grün­de, weswegen das Wirtschaftswachstum ins Gerede gekommen ist, nämlich zu­nächst natürlich die weltweite Finanzkrise, die der Wachstumsgläubigkeit einen kräf­tigen Dämpfer versetzt habe, sodann die intensivere Beschäftigung mit den ökolo­gischen Folgen, vor allem dem Klimawan­del, und schließlich die Frage nach der so­zialen Gerechtigkeit. Denn Wachstum und Globalisierung werden als die wesentli­chen Quellen für die Zunahme der Unter­schiede bei Einkommen und Lebenschan­cen und die sich dadurch immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich ausgemacht. Hinzu kommen dann noch der Kulturpessimismus, der den globalen Menschen als eine Art wurzellosen Durch­schnittsamerikaner sieht – «angepasst, auswechselbar, irgendwie seiner Identität beraubt, vielleicht wohlhabend, aber un­glücklich, eine verkümmerte Kreatur, jäm­merlich gestrandet in der kulturellen Ar­mut auf der ewigen hastigen Suche nach materiellem Reichtum». Schließlich, so meint der Autor, trage auch die demogra­fische Entwicklung zur Wachstumsskepsis bei – es entstehe «das bedrohliche Bild ei­nes kollektiven Altersheims».

Der Autor setzt solchen Thesen seine wirtschaftshistorischen Argumente entge­gen. Der materielle Wohlstand wachse mindestens seit 1820 schneller als die Weltbevölkerung; die  globale Produktion habe sich seither um das 58-fache ver­mehrt, oder um 1,2% pro Jahr, bei einem Anstieg der Weltbevölkerung von etwa 1%. Zwischen 1500 und 1800 habe sich die Produktionsleistung nur um 0,32% er­höht. Die Industrialisierung habe nicht nur die Grundlage für einen unerhörten Schub bei den Wohlstandsgewinnen ge­legt, sondern sei auch das Zentrum der entscheidenden Innovationen geworden, die sich dann auch in die Landwirtschaft und den Dienstleistungsbereich fortge­pflanzt hätten. Lange Zeit habe es so aus­gesehen, als bliebe dieser «entfesselte Pro­metheus» (David Landes) der Industriali­sierung ein westliches Privileg. Nur Japan hatte es noch frühzeitig geschafft, diesem Weg nachzueifern. Doch seit den 1970er Jahren habe sich diese Situation grundle­gend verändert, denn nach einigen kleinen Tigern haben sich seit dreißig Jahren große Länder wie China, Indien, Indonesien und Brasilien auf den Weg der Industrialisie­rung begeben. Und weil sie auf bereits vor­handenes Wissen und Technologie zu­rückgreifen könnten, verlaufe ihr Aufstieg weit schneller als im Europa (und in den USA) des 19. Jahrhunderts. Sofern sie über gut ausgebildete Bevölkerungsschichten verfügten, könnten sie das vorliegende technische Wissen auch schnell in Fort­schritte der Arbeitsproduktivität umset­zen. Der Industrialisierungsprozess dehne sich also von der «Kleinen Welt» (im We­sentlichen der Westen) auf die «Große Welt» und damit auf die Mehrheit der Weltbevölkerung aus. Dieser Prozess des Übergangs wird heute im Allgemeinen Globalisierung genannt. Diese sei alterna­tivlos, denn alle Versuche der direkten oder indirekten Abschottung vom Welt­markt – der Protektionismus nach dem Ersten Weltkrieg, die Planwirtschaft oder die Politik der Importsubstitution – seien letztlich gescheitert. Auch die diversen Theorien, wie sie etwa ein Gunnar Myrdal in «Asian Drama» formuliert habe, wo­nach die asiatischen Gesellschaften aus kulturellen Gründen in einem «Teufels­kreis der Stagnation» befangen und nicht in der Lage seien, dem westlichen Pfad zu folgen, haben sich als falsch erwiesen. Dar­in kann man dem Autor zustimmen und anfügen, dass auch die heute in zahlrei­chen Publikationen auftauchenden, im Grunde rassistischen Vorurteile der isla­mischen Welt gegenüber in absehbarer Zeit faktisch widerlegt sein werden.

Ein Verzicht auf Wachstum bedeute so­mit einen «Verzicht auf die Umsetzung von neuem Wissen in eine qualitativ bes­sere und vielfältigere Produktwelt, und zwar privatwirtschaftlich und gemeinnüt­zig». Dies sei eine merkwürdige Forde­rung, denn warum sollten die Entwick­lungsländer auf den Wohlstand der «Klei­nen Welt» verzichten?

Was könnte die insgesamt optimisti­schen Ausblicke des Autors eintrüben? Er glaubt zwar, dass das Risiko einer Klima­katastrophe durch technologische Innova­tion minimiert und die Risiken von Fi­nanzkrisen durch Regulierungen mittels strenger nationaler Finanzaufsicht und deren internationale Koordination abge­senkt werden können. Er möchte aber nicht ausschließen, dass es aufgrund der Klimakrise zu «einer Großkatastrophe mit irreversiblen fatalen Folgen kommt» oder dass von den Finanzmärkten «eine Welt­wirtschaftskrise mit massiver Stockung des Geldkreislaufs und anschließenden politischen Wirren, wie sie sich in der Zwi­schenkriegszeit abspielten», ausgehen könnte. Weitere, im Buch nicht weiter be­handelte «Risiken» wären die Möglichkeit atomarer Vernichtung, Terroranschläge jeder Art, evtl. auch mit Massenvernich­tungswaffen, der unverantwortliche Ein­satz der Biotechnologie zum Klonen von Menschen, der auf der modernen Infor­mationstechnologie gegründete  totale Überwachungsstaat usw. Einer wirtschaft­lich und wissensmäßig wachsenden Welt eröffneten sich auch immer größere Mög­lichkeiten zum Missbrauch. Es sei die Auf­gabe des demokratischen Staates, durch «gutes Regieren» einen Weg zu finden, Missbräuche zu verhindern und die unge­heuren Möglichkeiten nach moralischen Gesichtspunkten einzugrenzen.

Ein Hoch auf die Moral!

Klaus Schweinsberg: Sind wir noch zu ret­ten? Warum Staat, Markt und Gesellschaft auf einen Systemkollaps zusteuern. Mün­chen: Finanz-Buch-Verlag, 2010, 235 S., 19,95 Euro. Meinhard Miegel: Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin: Propyläen, 2010, 300 S., 22,90 Euro.

Konservative Wachstumskritiker haben seit einiger Zeit Konjunktur. In der Regel geht es bei ihnen um drohende Inflation oder Staatsbankrott, den Zusammenbruch des Euro, vor allem aber um den angebli­chen Verfall moralischer Werte.

Klaus Schweinsberg, der Leiter der Intes Stiftung für Familienunternehmen, fragt, ob wir noch zu retten sind, und behauptet, Staat, Markt und Gesellschaft steuerten auf einen Systemkollaps zu. Er benennt zahlreiche politische, gesellschaftliche und kulturelle Faktoren, die bewirkten, dass der «Wohlfahrtsstaat» immer mehr von seiner Tragfähigkeit einbüße. Besonders wichtig seien der Rückzug ins Private und die sich ausbreitende Ohne-mich-Hal­tung. Das Gegenrezept ist im Grunde alt­bekannt: moralische Aufrüstung! Der Au­tor möchte durchsetzen, dass der ehren­amtliche Einsatz des Einzelnen für die Ge­sellschaft Pflicht wird. Führungspersonal voran. Besonders schön sein Vorschlag, Vorstandsmitglieder der DAX-Konzerne sollten an mehreren Tagen im Jahr soziale Dienste in Suppenküchen oder Altershei­men absolvieren. Da würde bei den Acker-, Groß- oder Obermännern sicherlich Freu­de aufkommen!

Ein besser durchdachtes Beispiel wert­konservativer Wachstumskritik hat der langjährige Vorsitzende des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, Meinhard Miegel, in seinem neuen Buch Exit. Wohl­stand ohne Wachstum abgeliefert. Er be­ginnt mit der durchaus zutreffenden Dia­gnose, dass «große Teile der Welt – an ih­rer Spitze die frühindustrialisierten Län­der Europas, Nordamerikas, Japan, Aus­tralien und einige andere – am Wirt­schaftswachstum (hängen) wie Alkoholi­ker an der Flasche oder Drogensüchtige an der Nadel. Stockt der Nachschub auch nur kurzzeitig, werden sie von Panikattacken befallen und von existenziellen Ängsten geplagt.» Vielleicht sind es jedoch nicht die «Länder», sondern ganz bestimmte gesell­schaftliche Gruppen, die so heimgesucht werden. Und angesichts der  in der Krise freigesetzten Massen von Arbeitslosen hat der Professor leicht reden.

Genüsslich zitiert Miegel Reden und Programme von Politikern aller großen Parteien, die mehr Wachstum als Ausweg aus der Wirtschaftskrise einfordern: «Wir müssen alles tun für mehr Wachstum. Wir müssen in diesem Land bereit sein, mög­lichst hohe Wachstumsraten zu erzielen» (Angela Merkel). Und die FDP fordert na­türlich eine «Wirtschaftspolitik, die Wachstums schafft» – am besten durch Steuersenkungen. Auch Grüne und Linke möchten das Wachstum «ankurbeln» – durch einen grünen New Deal oder durch Ausbau des Sozialstaats. Da sich das Wachstum von selbst so gar nicht einstel­len will, greifen fast alle Staaten zu «hem­mungslose(r) Schuldenmacherei».

Miegel spricht von der Finanzkrise des «Casinokapitalismus» als einem «Fest, das da gefeiert wurde», welches «aus der Sicht der Ökonomen das gigantischste kreditfi­nanzierte Konjunkturprogramm (war), das es je gegeben hat. Dessen sollte sich je­der bewusst sein, der sich auch nur mit dem Gedanken an ein neues derartiges Programm trägt – und seine Folgen be­denken.» Er bringt dann eine kurze Analy­se des US-amerikanischen Immobilien­booms und des Verkaufs von Kreditderi­vaten und Bankzertifikaten an die ganze Welt. «Das zwar traurige, aber vorherseh­bare Ergebnis (war) eine Entwicklung, die fatale Übereinstimmung mit einem Ket­tenbrief aufwies.»

Und er fährt fort: «Solche Zusammen­brüche sind Teil der kapitalistischen Wirt­schafts- und Gesellschaftsordnung, in der Spiel und Wette eine wichtige Rolle zu­kommen.» (Wo er Recht hat, hat er Recht!) «Allein seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es mindestens fünf solcher spiel- und wettgetriebenen Wirt­schafts- und Finanzkrisen, vom Schwar­zen Montag 1987 über die Asien- und di­versen Südamerikakrisen bis hin zur Krise der New Economy zu Beginn dieses Jahr­zehnts. Der Mensch ist offenbar ein Spie­ler. Bekommt er Gelegenheit hierzu, gibt es kein Halten mehr. Dann spielen Staaten, Banken und Versicherungen, Pensions­fonds, Kleinaktionäre und Sparer, dann spielen Amerikaner und Europäer, Russen und Chinesen, die Völker entwickelter und weniger entwickelter Länder, dann spielen einfach alle. Die Globalisierung hat das Feld dafür bereitet.» Der Fehler in die­ser Argumentation liegt darin, dass die Be­griffe «Kapitalismus» und «Mensch» ein­fach in eins gedacht werden. Sicherlich hat sich seit der neoliberalen Wende Anfang der 1980er Jahre ein finanzmarktgetriebe­ner Kapitalismus entwickelt, aber nicht weil «der Mensch» ein Spieler ist (denn die übergroße Mehrheit der Menschen ist ja nur als Opfer beteiligt), sondern weil nach der Liberalisierung der Finanzmärkte ganz bestimmte Leute geglaubt haben, mit Hil­fe moderner Mathematik und Computer­technologie könne es gelingen, die Risiken der Kreditgewährung und deren «Umbau» zu als «Wertpapiere» handelbaren Finanz­derivaten im Griff zu behalten. Vertraut haben sie auf ihre neoliberalen Ideologe­me von der «unsichtbaren Hand», die das Marktgeschehen letztlich vernünftig len­ke. Es handelt sich einmal mehr um Goe­thes Zauberlehrling, an dessen Übereifer schließlich der Besen schuld haben soll.

Nun kommt Miegel auf die wesentliche Frage der Bedürfnisse zu sprechen. Ohne eine genauere Analyse der Bedürfnisstruk­turen anzubieten, gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass in Ländern wie Deutschland Wachstum und Zufrieden­heit längst auseinanderfallen, weil die Grundbedürfnisse, nämlich ausreichend zu Essen und zu Trinken zu haben, über genügend Kleidung zu verfügen und seine Wohnwünsche befriedigen zu können, im Wesentlichen gestillt seien. Man wird ihm zustimmen können, wenn er sagt: «Keiner möchte hungern oder frieren. Aber nur wenige fühlen sich glücklicher, wenn sie einen Zobelpelz tragen oder einen May­bach fahren.» Daher stieg in Deutschland die Lebenszufriedenheit nach dem Krieg parallel mit der Zunahme des Bruttoin­landsprodukts (BIP) etwa bis 1970 an. Da­mals erklärten gut 60% der Bevölkerung, sie seien mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden. Seither verdoppelte sich das BIP, und die verfügbaren Einkommen liegen etwa 75% höher – doch der Anteil der Zufriedenen schwankt weiterhin um die 60%. «So erklärten im Jahre 2007 in Deutschland nur 27% der Befragten, sie erstrebten eine Mehrung ihres materiellen Besitzes. 59% bekundeten hingegen, sie seien mit dem, was sie haben, zufrieden, und weitere 10% – recht gleichmäßig ver­teilt über alle Einkommensschichten –, waren sogar bereit, mit weniger vorliebzu­nehmen.» Bei der Frage, was den Men­schen im Leben wichtig sei, standen die Pflege von Freundschaften (87%), intakte Familienverhältnisse (81%) oder ein er­füllter Beruf (75%) ganz oben. In den meisten «frühindustrialisierten Ländern» liegen die Verhältnisse ähnlich, und Mie­gel stellt die (durchaus nachvollziehbare) Behauptung auf, dass Einkommenszunah­me und Wohlbefinden nur bis etwa 20000 Dollar im Jahr korrelieren und darüber weitere materielle Güter «nur noch einen geringen und bei vielen überhaupt keinen Beitrag mehr zur Steigerung von Lebens­zufriedenheit und Lebensglück» leisten.

Den Zusammenbruch des realen Sozia­lismus bezeichnet Miegel als «Menetekel» für die frühindustrialisierten kapitalisti­schen Länder, denn beide System seien in einem Punkt gleich gewesen: «Ihr gemein­sames Glücks- und Heilsversprechen war die Mehrung materiellen Wohlstands für alle.» Der Westen dürfe sich keine Illusio­nen machen: «Obsiegt hat nicht sein Wer­tesystem, sondern seine materielle Überle­genheit.»

Meinhard Miegel geht dann auf die ökologische Krise ein und verweist (zu Recht) darauf, dass es schon immer Kriti­ker des rigiden Wachstumsprozesses mit seinen verheerenden Folgen für Mensch und Natur gegeben hat, die schon frühzei­tig auf «die Endlichkeit der Ressourcen, Umwelt und Natur oder auf die drohende Beschädigung des sozialen Zusammen­halts hingewiesen haben». Inzwischen ha­be sich die Umweltkrise so weit ausge­wachsen, dass man die Gefährdungen und Krisenerscheinungen nicht länger ver­drängen könne. Außerdem gäbe es deutli­che Tendenzen zu einer Sättigung des Wachstums, die absoluten Zuwächse seien überall rückläufig.

So interessant und richtig Miegels Dia­gnose häufig ausfällt, so einseitig und kurzsichtig sind seine Therapievorschläge. Hier tritt der knallharte Neoliberale auf die Bühne, der sich im Grunde keine Ge­sellschaft jenseits des bürgerlich-kapitalis­tischen Modells vorstellen kann. Sicher­lich lassen sich viele «Barrieren zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, Freizeit und Erwerbszeit, Privatem und Beruflichem» abbauen – sofern die Logik der Profitma­ximierung nicht tangiert wird. Die Frage ist nur, wer unter gegebenen Bedingungen davon profitiert. Miegel zitiert Daniel Bell, der betont hat, dass der «Mensch als Pro­duzent asketisch, genügsam und rechen­haft» sein müsse, als Konsument hingegen «hedonistisch, ausschweifend und exzes­siv». Im Unterschied zu Miegel trat Bell aber für die Abschaffung des Kapitalismus ein, denn wie sollte dieser Widerspruch sonst gelöst werden können? Im Grunde möchte Miegel eine Art Verallgemeine­rung der Ich-AG, den neuen Selbstständi­gen, der sich seine eigene Erwerbsgrundla­ge schafft. Als Flankierung solle die «Poli­tik die Bürger darauf vorbereiten, dass sie künftig nicht mehr die gewohnten Sozial­leistungen erhalten werden».

Und wer soll die Lasten der zunehmen­den Prekarisierung auffangen? Na, natür­lich die Familie! «Während staatliche Sys­teme in Umbruchsituationen an Hand­lungsfähigkeit einbüßen und nicht selten auch scheitern, zeigt der Familienverband gerade dann seine besondere Stärke … Die Familien werden viel von dem auffangen müssen, was dem Staat entgleitet.» Und wenn die unter den Lasten stöhnende Fa­milie noch ein Leitbild braucht, dann ist es die Nation: Miegel meint tatsächlich, mit einer Renationalisierung den zentrifuga­len Kräften der Globalisierung begegnen zu können.

Fetisch Wachstum

Ernest Mandel: Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie. Köln: Neuer ISP Verlag, 2000, 318 S., 21,50 Euro. Peter Radt: Fetisch Wachstum. Philoso­phisch-ökonomische Anmerkungen zur Logik des Kapitalismus. Köln: Neuer ISP Verlag, 2010, 159 S., 17,80 Euro.

Im Hinblick auf eine marxistische Kritik an diesen einseitigen und bisweilen ver­queren Vorstellungen empfiehlt es sich, Ernest Mandels Buch Macht und Geld, be­sonders das letzte Kapitel über «Selbstver­waltung, Überfluss und das Absterben der Bürokratie» zur Hand zu nehmen. Mandel zeigt auf, wie eine auf der Grundlage der gesellschaftlichen Bedürfnisse aufgebaute Produktion funktionieren könnte und welche Möglichkeiten es gäbe, den Stoff­wechsel mit der Natur durch demokrati­sche Planung zu regeln.

Zur Wachstumsproblematik im Kapita­lismus hat der Kölner Philosoph Peter Radt mit Fetisch Wachstum ein erhellendes Buch veröffentlicht, das auf marxistischer Grundlage vom grundlegenden Wider­spruch dieses Systems ausgeht, nämlich dass nicht (wie in vorkapitalistischer Zeit die Hungersnöte) ein Mangel an Ge­brauchsgütern periodische Krisen hervor­ruft, sondern die periodische Überpro­duktion von Tauschwerten.

Unter kapitalistischen Bedingungen wird die Wirtschaft von einem Mittel zur Befriedigung der menschlichen Bedürf­nisse, vor allem Nahrung, Kleidung und Wohnung, zu einem Selbstzweck. Denn die innere Logik der Produktionsentwick­lung ergibt sich aus dem fortwährenden Streben nach maximalem Profit bzw. im Fall der Großunternehmen nach Extra­profit. Auch die Menschen werden dieser Logik unterworfen; nicht zufällig spricht man von ihnen als «Humankapital». Teil­weise gelingt es den «ideologischen Appa­raten» der bürgerlichen Gesellschaft, diese Logik fest in den Hirnen einer Bevölke­rungsmehrheit zu verankern. In den Bil­dern der Medien ergeben sich Krisen dann nicht aus dem Widerspruch zwischen Pro­duktion von Gütern und der – im Hinblick auf die kaufkräftige Nachfrage – fehlenden Absatzmöglichkeit, sondern aus morali­schem Versagen, der berühmten «Gier der Banker und Finanzhaie». Als würden die­se moralischen Defekte im realen Kapita­lismus nicht immer am Werke sein! Diese Form der Kritik verwechselt den Kapitalis­mus und seine Systemlogik mit den Kapi­talisten und deren (defizitärer) Moral.

«Ein Kapitalist schlägt viele andere tot», schrieb Marx lakonisch über «den Wettbe­werb». Man vergisst nur zu gern, dass die im System wirkende Konkurrenz zwangs­weise dazu führt, dass die unterlegenen Konkurrenten vernichtet werden (hierin liegt ja der wirkliche Sinn der Krise) und dass das Kapital durch Entwertung von Kapital und Arbeit versucht, die Profitrate in die Höhe zu treiben. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit und die Tendenz zur «schöpferischen Zerstörung», also zur permanenten Innovation, sowie die For­derung, mehr Geld in Wissenschaft und Forschung zu investieren («Köpfe sind un­ser einziger Rohstoff»), ohne dass ausrei­chend Zeit bliebe, über die sozialen und die ökologischen Folgen der Innovation nachzuforschen. Ein besonders drasti­sches Beispiel für diese Tendenz stellt die Gentechnologie dar.

Mit Verweis auf Aristoteles betont Radt, dass die Arbeit des Menschen um des blo­ßen (Über-)Lebens willen entstanden ist, dass die Freiheit aber erst dann wirklich entsteht, wenn die Grundbedürfnisse des Menschen gestillt sind. Er dann stellt sich die Frage nach dem guten Leben immer drängender, weil die Leere der kapitalisti­schen Glücksversprechen immer stärker erfahren wird. «Ein Tun, in dem es aus­schließlich um den materiellen Nutzen geht, ist letztlich ein geistloses Tun!» Das Maß der menschlichen Entwicklung ist die freie Zeit, die Zeit der Muße, in der der Mensch nicht äußerlichen Notwendigkei­ten oder gar kapitalistischer Entfremdung unterworfen ist. Engels sprach von der Ge­schichte der in Klassen gespaltenen Gesell­schaften als der «Vorgeschichte der Menschheit», die dann zu Ende geht, wenn das Ziel der menschlichen Praxis nicht mehr das Haben, sondern das Sein ist, also die allseitig und harmonisch entwickelte Persönlichkeit. Echte humane Tätigkeit wäre demnach nicht «bloße Erwerbsarbeit oder bloßer Konsum», sondern «wahrhaft erfülltes Tun», dessen spezifisches Kenn­zeichen «gerade die innere Lebendigkeit und Anteilnahme der Person ist». So wie Goethe im Faust sagt: «Erquickung hast du nicht gewonnen, wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt!»

Die Durchsetzung einer menschlichen Gesellschaft ist nur in Form, um mit Marx zu sprechen, eines Systems «frei assoziier­ter Produzenten» denkbar. Dass dazu der Kapitalismus als verallgemeinerter Waren­wirtschaft, dessen Herzstück die «private Verfügungsgewalt über die gesellschaftli­chen Produktionsmittel» ist (auch «freies Unternehmertum» genannt), abgeschafft werden muss, versteht sich von selbst. Der Kapitalismus treibt diesen Prozess jedoch selbst voran, indem er durch immer grö­ßere Konzerne (die 500 größten machen bereits zwei Drittel des Welthandels aus) objektiv die «Vergesellschaftung des Pro­duktionsprozesses» vorantreibt. Der Markt wird zurückgedrängt, denn der Austausch zwischen den verschiedenen Konzernteilen erfolgt natürlich nicht nach Marktpreisen, sondern nach konzernin­terner Verrechnung.

Wenn die Wirtschaft gemäß den Grundsätzen der Bedürfnisbefriedigung und des gesellschaftlichen Nutzens organi­siert würde, käme es zu einem «Absterben der Warenwirtschaft», denn immer mehr Güter können dann ohne Tauschlogik, al­so gratis verteilt werden. Mit der Waren­wirtschaft würde natürlich auch das Lohn­system Zug um Zug überwunden. Durch die Ausweitung der freien Zeit hätten die Menschen ganz andere Möglichkeiten als heute, sich um die Kinder und die Alten zu kümmern; vor allem aber könnten sie sich intensiv den Aufgaben der gesellschaftli­chen und politischen Gestaltung widmen und bräuchten sie nicht wenig kontrollier­baren Vertretern zu überlassen.

Eine sehr gute philosophische Untersuchung der ideologischen Annahmen und Grundlagen der libe­ralen bzw. neoliberalen Theorie bringt Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphnes, 2010 (be­reits diverse Auflagen).

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